Lot Nr. 38


Orazio Gentileschi und Werkstatt


Orazio Gentileschi und Werkstatt - Alte Meister I

(Pisa 1563–1639 London)
Porträt einer jungen Frau als Sibylle,
Öl auf Leinwand, 87,5 x 77 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich Sammlung Giovan Battista Bolognetti, Rom, 1627;
europäische Privatsammlung;
dort erworben durch den jetzigen Besitzer

Literatur:
vermutlich C. Mazzarelli, Arte e immagine del papato Borghese, Florenz 2005, S. 180, unter „Divisione dei Beni“ [di Giovanni Battista Bolognetti]

Wir danken Pierluigi Carofano, nach dessen Dafürhalten es sich bei dem vorliegenden Gemälde um ein zur Gänze eigenhändiges Werk von Orazio Gentileschi handelt. Er wird es in seine in Vorbereitung befindliche Monografie des Künstlers aufnehmen.

Zudem danken wir Gianni Papi, der die Zuschreibung als zur Gänze eigenhändiges Werk von Orazio Gentileschi unabhängig vorgeschlagen hat (schriftliche Mitteilung, 2018).

Eine zweite Version der vorliegenden Komposition, die ebenfalls von Orazio Gentileschi gemalt wurde, befindet sich im Museum of Fine Arts in Houston (siehe Abb. 1). Man hat im vorliegenden Gemälde den Prototyp der berühmten Komposition vermutet, zumal die Fassung in Houston stark übermalt und vom Künstler möglicherweise nicht vollendet wurde.

Darüber hinaus stützt ein dokumentarischer Hinweis diese Argumentation, wonach 1627 im Testament Giovanni Battista Bolognettis ein Gemälde mit dem Eintrag „Eine Sibylle mit einem Tuch auf dem Kopf von Gentileschi“ erwähnt wird (siehe C. Mazzarelli, Arte e immagine del papato Borghese, Florenz 2005, S. 174f. und S. 180). Man kann begründet annehmen, dass sich dieser Eintrag auf das vorliegende Gemälde bezieht. Es wäre unwahrscheinlich, dass ein Kunstsammler vom Rang Bolognettis, der immerhin apostolischer Sekretär von Papst Paul V. war, ein unvollendetes Gemälde in seiner Sammlung gehabt hätte.

Da das vorliegende Bild und die berühmte Sibylle in Houston einander so ähneln, wäre es von fundamentalem Interesse, die Arbeitsweise des Künstlers zu verstehen. Man weiß, dass Orazio seine Kompositionen oft wiederholte und in seinen Werken Figuren erscheinen, die sich durch sein gesamtes Oeuvre ziehen. In einem Katalog der Sammlung von König Karl I. hält der Künstler Abraham van der Doort fest, dass Orazio Gentileschi eine Zeichnungenmappe bei sich hatte, um darin Kompositionen aufzubewahren, die er bei Bedarf als Referenz heranziehen konnte. (siehe K. Christiansen, J. W. Mann [Hg.], Orazio e Artemisia Gentileschi, Ausstellungskatalog, Mailand 2001, S. 21). Darüber hinaus ist dokumentiert, dass der Künstler wie im vorliegenden Fall für größere Formate Kartons verwendete, von denen er Pausen herstellte, um Figuren früherer Kompositionen wiederzuverwenden.

Bei der Betrachtung der beiden Werke werden kleine kompositorische Unterschiede deutlich. Der linke Arm der Sybille im Gemälde in Houston ruht auf einer unsichtbaren Auflage, im Gegensatz zur Sybille im aktuellen Bild, deren Arm auf einer Sockelmauer zu liegen kam. Zudem ist die Größe der Schriftrolle nicht dieselbe: Auf dem vorliegenden Bild ist sie entlang des linken Handrückens um einige Zentimeter länger als im Houstoner Bild, wobei das äußerste Blatt nicht vollständig aufgerollt ist. Außerdem unterscheiden sich die Falten des Turbans im Houstoner Bild vom vorliegenden Gemälde. Raymond Ward Bissel hat beobachtet, dass die Houstoner Sibylle stellenweise übermalt ist und Ergänzungen aufweist, wie beispielsweise im oberen Teil des Turbans und im Bereich der Finger an der rechten Hand (siehe R. W. Bissell, Orazio Gentileschi and the Poetic Tradition in Caravaggesque Painting, University Park/London 1981, S. 187: „the upper part of the turban and [the] fingers of the right hand are new“). Im Gegensatz dazu erscheint die vorliegende Komposition relativ intakt und stilistisch kohärent. Carofano meint, dass es möglicherweise Orazios erste Version der Komposition war, und datiert sie um 1610.

In der vorliegenden Komposition gibt Gentileschi die verschiedenen Texturen der Stoffe wieder, darunter das schieferblaue Kleid, das das Licht nicht absorbiert, sondern reflektiert. Das teilweise verschattete Gesicht der Sibylle mit dem glatten Inkarnat wird durch ein subtiles Spiel des reflektierten Lichtes belebt. Die Figur ist in einen prächtigen Umhang aus ockerfarbenem Seidendamast mit einem reichen Muster von Blüten und Blättern gehüllt ist; der linke Arm ruht auf einer Art steinerner Tischplatte, und in der linken Hand hält sie eine Schriftrolle, auf der ihre Prophezeiungen vermerkt sind; auf ihrem Kopf trägt sie ein zu einem Turban geschlungenes Tuch aus Leinen oder Baumwolle.

Obwohl Orazio Gentileschi sechs Jahre älter war, war er stark von Caravaggio beeinflusst; dennoch hielt er an seinem ganz und gar persönlichen, betont lyrischen Malstil fest. Obwohl er mit der Malerei relativ spät, Berichten zufolge erst in seinen späten 30ern, begonnen hatte, war er vermutlich der erfolgreichste und sicherlich auch der international angesehenste Weggefährte Caravaggios. Orazios Reisen trugen maßgeblich dazu bei, dass Caravaggios Stil im Ausland bekannt wurde. Seine Laufbahn führte ihn nach Florenz, in die Marken, nach Rom, Genua, Paris und auch nach London, wo er 1626 Hofmaler von König Karl I. wurde und dreizehn Jahre, bis zu seinem Tod, blieb.

Bevor Gentilleschi mit Caravaggios revolutionärem Stil in Berührung kam, gehörte er einer älteren Generation von Künstlern an, die sich an der Kunst der Familie Carracci orientierte, deren künstlerische Prägung im 16. Jahrhundert wurzelte und die von den Arbeiten Michelangelos, Raffaels und Domenichinos inspiriert wurde. Orazios künstlerische Reife war maßgeblich der Bekanntschaft mit dem jüngeren Caravaggio geschuldet, den er um 1600 in Rom traf. Orazio sollte den lyrischen Grundton seiner Bilder und den sehr persönlichen Sinn für Farbe nie aufgeben. Sie sind das Ergebnis seiner spätmanieristischen Ausbildung in der Toskana und lassen den Begriff „caravaggesk“ nur bedingt zu. Gentilleschi war einer der wenigen Künstler seiner Generation, denen es gelang, den Naturalismus Caravaggios mit formaler Raffinesse zu verschmelzen, und die das Licht weniger theatralisch, sondern vielmehr als Mittel einsetzten, um der Schönheit zu huldigen.

Während der Jahre seiner Ausbildung griff Gentileschi wiederholt auf Caravaggios Bildfindungen zurück, indem er einzelne Figuren ganz nahe an der Bildebene und vor einem Hintergrund darstellte, den er bis auf wenige Details leer ließ. Im Hinblick auf das vorliegende Gemälde wurde vorgeschlagen, dass Orazio von Caravaggios Lautenspieler (siehe Abb. 2) und den verschiedenen Varianten davon sowie von Caravaggios Büßender Magdalena in der Galleria Doria Pamphilij angeregt war. Zwischen dem zuletzt genannten Gemälde Caravaggios und dem vorliegenden Werk lassen sich Ähnlichkeiten feststellen, beispielsweise das von oben einfallende gerichtete Licht, welches im Fall des vorliegenden Bildes das Gesicht der jungen Frau streift und seine Ovalform, die runden Augenhöhlen und die vollen, sinnlichen Lippen hervorhebt. Trotz des sichtbaren Einflusses des jüngeren Malers muss betont werden, dass Gentileschi nicht als bloßer Imitator Caravaggios missverstanden werden sollte. Er interpretierte Caravaggios Naturalismus neu, indem er ihm seine eigenen Prinzipien und seine eigene künstlerische Erfindungsgabe auferlegte.

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com

10.11.2021 - 16:00

Schätzwert:
EUR 300.000,- bis EUR 400.000,-

Orazio Gentileschi und Werkstatt


(Pisa 1563–1639 London)
Porträt einer jungen Frau als Sibylle,
Öl auf Leinwand, 87,5 x 77 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich Sammlung Giovan Battista Bolognetti, Rom, 1627;
europäische Privatsammlung;
dort erworben durch den jetzigen Besitzer

Literatur:
vermutlich C. Mazzarelli, Arte e immagine del papato Borghese, Florenz 2005, S. 180, unter „Divisione dei Beni“ [di Giovanni Battista Bolognetti]

Wir danken Pierluigi Carofano, nach dessen Dafürhalten es sich bei dem vorliegenden Gemälde um ein zur Gänze eigenhändiges Werk von Orazio Gentileschi handelt. Er wird es in seine in Vorbereitung befindliche Monografie des Künstlers aufnehmen.

Zudem danken wir Gianni Papi, der die Zuschreibung als zur Gänze eigenhändiges Werk von Orazio Gentileschi unabhängig vorgeschlagen hat (schriftliche Mitteilung, 2018).

Eine zweite Version der vorliegenden Komposition, die ebenfalls von Orazio Gentileschi gemalt wurde, befindet sich im Museum of Fine Arts in Houston (siehe Abb. 1). Man hat im vorliegenden Gemälde den Prototyp der berühmten Komposition vermutet, zumal die Fassung in Houston stark übermalt und vom Künstler möglicherweise nicht vollendet wurde.

Darüber hinaus stützt ein dokumentarischer Hinweis diese Argumentation, wonach 1627 im Testament Giovanni Battista Bolognettis ein Gemälde mit dem Eintrag „Eine Sibylle mit einem Tuch auf dem Kopf von Gentileschi“ erwähnt wird (siehe C. Mazzarelli, Arte e immagine del papato Borghese, Florenz 2005, S. 174f. und S. 180). Man kann begründet annehmen, dass sich dieser Eintrag auf das vorliegende Gemälde bezieht. Es wäre unwahrscheinlich, dass ein Kunstsammler vom Rang Bolognettis, der immerhin apostolischer Sekretär von Papst Paul V. war, ein unvollendetes Gemälde in seiner Sammlung gehabt hätte.

Da das vorliegende Bild und die berühmte Sibylle in Houston einander so ähneln, wäre es von fundamentalem Interesse, die Arbeitsweise des Künstlers zu verstehen. Man weiß, dass Orazio seine Kompositionen oft wiederholte und in seinen Werken Figuren erscheinen, die sich durch sein gesamtes Oeuvre ziehen. In einem Katalog der Sammlung von König Karl I. hält der Künstler Abraham van der Doort fest, dass Orazio Gentileschi eine Zeichnungenmappe bei sich hatte, um darin Kompositionen aufzubewahren, die er bei Bedarf als Referenz heranziehen konnte. (siehe K. Christiansen, J. W. Mann [Hg.], Orazio e Artemisia Gentileschi, Ausstellungskatalog, Mailand 2001, S. 21). Darüber hinaus ist dokumentiert, dass der Künstler wie im vorliegenden Fall für größere Formate Kartons verwendete, von denen er Pausen herstellte, um Figuren früherer Kompositionen wiederzuverwenden.

Bei der Betrachtung der beiden Werke werden kleine kompositorische Unterschiede deutlich. Der linke Arm der Sybille im Gemälde in Houston ruht auf einer unsichtbaren Auflage, im Gegensatz zur Sybille im aktuellen Bild, deren Arm auf einer Sockelmauer zu liegen kam. Zudem ist die Größe der Schriftrolle nicht dieselbe: Auf dem vorliegenden Bild ist sie entlang des linken Handrückens um einige Zentimeter länger als im Houstoner Bild, wobei das äußerste Blatt nicht vollständig aufgerollt ist. Außerdem unterscheiden sich die Falten des Turbans im Houstoner Bild vom vorliegenden Gemälde. Raymond Ward Bissel hat beobachtet, dass die Houstoner Sibylle stellenweise übermalt ist und Ergänzungen aufweist, wie beispielsweise im oberen Teil des Turbans und im Bereich der Finger an der rechten Hand (siehe R. W. Bissell, Orazio Gentileschi and the Poetic Tradition in Caravaggesque Painting, University Park/London 1981, S. 187: „the upper part of the turban and [the] fingers of the right hand are new“). Im Gegensatz dazu erscheint die vorliegende Komposition relativ intakt und stilistisch kohärent. Carofano meint, dass es möglicherweise Orazios erste Version der Komposition war, und datiert sie um 1610.

In der vorliegenden Komposition gibt Gentileschi die verschiedenen Texturen der Stoffe wieder, darunter das schieferblaue Kleid, das das Licht nicht absorbiert, sondern reflektiert. Das teilweise verschattete Gesicht der Sibylle mit dem glatten Inkarnat wird durch ein subtiles Spiel des reflektierten Lichtes belebt. Die Figur ist in einen prächtigen Umhang aus ockerfarbenem Seidendamast mit einem reichen Muster von Blüten und Blättern gehüllt ist; der linke Arm ruht auf einer Art steinerner Tischplatte, und in der linken Hand hält sie eine Schriftrolle, auf der ihre Prophezeiungen vermerkt sind; auf ihrem Kopf trägt sie ein zu einem Turban geschlungenes Tuch aus Leinen oder Baumwolle.

Obwohl Orazio Gentileschi sechs Jahre älter war, war er stark von Caravaggio beeinflusst; dennoch hielt er an seinem ganz und gar persönlichen, betont lyrischen Malstil fest. Obwohl er mit der Malerei relativ spät, Berichten zufolge erst in seinen späten 30ern, begonnen hatte, war er vermutlich der erfolgreichste und sicherlich auch der international angesehenste Weggefährte Caravaggios. Orazios Reisen trugen maßgeblich dazu bei, dass Caravaggios Stil im Ausland bekannt wurde. Seine Laufbahn führte ihn nach Florenz, in die Marken, nach Rom, Genua, Paris und auch nach London, wo er 1626 Hofmaler von König Karl I. wurde und dreizehn Jahre, bis zu seinem Tod, blieb.

Bevor Gentilleschi mit Caravaggios revolutionärem Stil in Berührung kam, gehörte er einer älteren Generation von Künstlern an, die sich an der Kunst der Familie Carracci orientierte, deren künstlerische Prägung im 16. Jahrhundert wurzelte und die von den Arbeiten Michelangelos, Raffaels und Domenichinos inspiriert wurde. Orazios künstlerische Reife war maßgeblich der Bekanntschaft mit dem jüngeren Caravaggio geschuldet, den er um 1600 in Rom traf. Orazio sollte den lyrischen Grundton seiner Bilder und den sehr persönlichen Sinn für Farbe nie aufgeben. Sie sind das Ergebnis seiner spätmanieristischen Ausbildung in der Toskana und lassen den Begriff „caravaggesk“ nur bedingt zu. Gentilleschi war einer der wenigen Künstler seiner Generation, denen es gelang, den Naturalismus Caravaggios mit formaler Raffinesse zu verschmelzen, und die das Licht weniger theatralisch, sondern vielmehr als Mittel einsetzten, um der Schönheit zu huldigen.

Während der Jahre seiner Ausbildung griff Gentileschi wiederholt auf Caravaggios Bildfindungen zurück, indem er einzelne Figuren ganz nahe an der Bildebene und vor einem Hintergrund darstellte, den er bis auf wenige Details leer ließ. Im Hinblick auf das vorliegende Gemälde wurde vorgeschlagen, dass Orazio von Caravaggios Lautenspieler (siehe Abb. 2) und den verschiedenen Varianten davon sowie von Caravaggios Büßender Magdalena in der Galleria Doria Pamphilij angeregt war. Zwischen dem zuletzt genannten Gemälde Caravaggios und dem vorliegenden Werk lassen sich Ähnlichkeiten feststellen, beispielsweise das von oben einfallende gerichtete Licht, welches im Fall des vorliegenden Bildes das Gesicht der jungen Frau streift und seine Ovalform, die runden Augenhöhlen und die vollen, sinnlichen Lippen hervorhebt. Trotz des sichtbaren Einflusses des jüngeren Malers muss betont werden, dass Gentileschi nicht als bloßer Imitator Caravaggios missverstanden werden sollte. Er interpretierte Caravaggios Naturalismus neu, indem er ihm seine eigenen Prinzipien und seine eigene künstlerische Erfindungsgabe auferlegte.

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister I
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 10.11.2021 - 16:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 29.10. - 10.11.2021

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